"Dandys in Deutschland" von Marie de Winter (erschienen im britischen Magazin "CHAP" / Ausgabe 104, Sommer 2020)

*** Diesen Beitrag haben wir aus persönlichem Interesse verfasst. Damit machen wir unbezahlte Reklame. ***


Zugegeben, die Redaktion WinterSturm fühlte sich ein wenig geehrt, als Gustav Temple, Herausgeber des britischen Herrenmagazins "CHAP" uns bat, einen Artikel über die Dandy-Szene in Deutschland für sein Magazin zu verfassen. Marie de Winter machte sich also an die Arbeit, interviewte 9 schillernde Persönlichkeiten - 2 Damen und 7 Herren - und fasste die Ergebnisse für die 104. Ausgabe zusammen. Die Übersetzung ins Englische übernahmen Marie de Winter und Ferdinand Sturm gemeinsam; der Artikel erschien im Mai 2020.

Hier nun können Sie Marie de Winters umfassende Recherche erstmals auf Deutsch genießen. Viel Freude bei der Lektüre!


DANDYS IN DEUTSCHLAND

 

Aus historischer Sicht ist das Dandytum nichts, was der oder dem Deutschen bereits in die Wiege gelegt worden wäre. Vielmehr scheint es sich so zu verhalten, dass - über die Landesgrenzen Großbritanniens hinaus – seit zwei Jahrhunderten immer wieder eine unbekannte Anzahl von Personen auch in Deutschland von diesem seltenen, gutartigen Fieber ergriffen wird. Können wir deshalb hierzulande von einer Dandy-Szene sprechen?

 

“Ich glaube, dass der Begriff etwas paradox ist. In der Geschichte war ein Dandy nie Teil einer Szene. Aus historischer Perspektive WAR ein Dandy eine SZENE, eine gewisse Inszenierung. Ihm folgten die Menschen, die sich in seiner Umgebung wohl fühlten. Dandys waren Zeitdiagnostiker in Opposition, Ästheten mit Ironie, die mit ihrer Art zu SEIN, die Kritik der Gesellschaft darstellten.“ Diese persönliche Sichtweise ließe sich auch auf die heutige Gesellschaft übertragen, meint der passionierte Pfeifenraucher Boris Juric (30) aus der Nähe von Frankfurt. Er hat ein philosophisch-theologisches Studium absolviert und sammelt Antiqutäten aus dem beginnenden 20. Jahrhundert.

 

Herr Juric ist einer von 9 schillernden Persönlichkeiten, die wir auf unserer Spurensuche quer durch Deutschland befragt haben. Um Näheres zum stilistischen Selbstverständnis unserer Interviewpartner - inmitten des Mainstream-Zeitgeistes der 2020 Jahre – zu erfahren, provozierten wir sie ein wenig mit Charles Baudelaires berühmten Bonmot:

 

“The dandy should aspire to be uninterruptedly sublime. He should live and sleep in front of a mirror.”

 

“Es ist ein schönes Zitat von Baudelaire, auf jeden Fall, aber ich habe keine Zeit für so etwas. In meinem Alltag bin ich praktisch veranlagt, und guter Stil bedeutet in diesem Fall, dass ich auf dem Weg zu meiner Werkstatt einen einfachen Anzug trage und ein Hemd ohne Kragen - und natürlich meine Baskenmütze. Aber wenn ich auf einen Ball gehe oder eine Soirée, dann mache ich mir die Mühe, um den Narzissten in mir zu zelebrieren.” Als ehemaliger Tänzer des Weimarer Nationaltheaters ist der alterslose Berliner mit dem Pseudonym Don Esteban als “Person des öffentlichen Lebens“ seit langem an die neugierigen Blicke der Passanten gewöhnt. Heute arbeitet er unter anderem als Möbelrestaurator und darf eine intakte Schlafzimmergarnitur aus Birkenfurnier im Stil der ‚Neuen Sachlichkeit‘ sein Eigen nennen.

“Ich sehe auf der Straße manchmal junge Kerle in modernen Anzügen und denke, etwas stimmt nicht. Und es geht nicht darum, dass sie vergessen haben, die Maniküre zu machen. Es geht um etwas Anderes: um gute Manieren und Bildung.“ In seinen ersten Anzug, den er in den 1980er Jahren in seiner Heimatstadt Santiago de Chile erwarb, passt er übrigens heute noch hinein, wie er verlauten lässt. Wir verneigen uns nicht nur vor Don Estebans Disziplin, sondern auch vor der offensichtlich exzellenten Qualität des gute Tuchs!

 

Stilvoll zur Nacht bettet sich auch die tattoobegeisterte Berlinerin Sarah Settgast (“Das Alter einer Dame erfragt man nicht.”) und zwar – man lese und staune - in einem Nachtgewand aus dem 19. Jahrhundert. “Der Dandy muss nicht leben und schlafen vor einem Spiegel, jedoch sollte er jeden Moment seines Lebens kein Problem damit haben, sich in ihm betrachten zu können.” Der Blick in den Spiegel dürfte sich für die Berliner Illustratorin, Inhaberin eines Kinder- und Kunstbuchverlages und selbst eingetragene Bild- und Wortmarke, bereits im zarten Alter von 7 Jahren gelohnt haben: Zu ihrer Einschulung erschien sie in Nadelstreifenanzug und Binder, um die anderen Mädchen in ihren rosafarbenen Tüllkleidern staunend zurückzulassen...

 

Der Bochumer Max Geilert (22), der es für prätentiös hält, sich selbst als Dandy zu bezeichnen, befindet die Worte Baudelaires auch heute noch für zutreffend und ergänzt: “Wer sein ganzes Streben darauf ausrichtet, ohne Unterlass erhaben zu sein, wird so zum Dandy.” Für den Studenten der Kunstgeschichte und Russischen Kultur, der sich auch als Gewürzexzentriker bezeichnet, ist guter Stil ein Prozess des Lernens und der Dandy ein nie endendes Kunstwerk. “Und das ist vielleicht das Beste daran, zu beobachten, wie man ein immer tieferes Verständnis von Stil gewinnt und langsam ‘in den Anzug hineinwächst’. [...]

Für mich ist meine Garderobe einer, wenn auch ein wahrlich wichtiger, von zahlreichen Aspekten, des ständigen Strebens, die beste Version meiner Selbst zu sein und Tag für Tag ein Stück zu wachsen…“.

 

Zwischen dem jungen Studenten Herrn Geilert und Prof. Dr. Rudolf Hein (52) wäre sicher ein spannender verbaler Schlagabtausch zu erwarten gewesen, hätten wir zur persönlichen Gesprächsrunde geladen: Professor Hein, wohnhaft in Duisburg/Ruhrgebiet hat nicht nur einen “Schuhtick” und eine Schwäche für britische und amerikanische Taschenuhren, sondern ist von Hause aus Theologe und tut sich schwer mit der Selbstdarstellungskultur unserer Zeit: “Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden“, zitiert er das Matthäus-Evangelium. “Wer sich selber erhaben fühlt oder meint, erhaben sein zu müssen, gleitet sehr schnell entweder in einen Hochmut oder eine prahlerische Tölpelhaftigkeit ab”, kritisiert er Baudelaire und erläutert seine persönliche Mission: “Natürlich verschafft es eine gewisse Genugtuung, anhand von Details eine Abgrenzung zu den Anderen vorzunehmen, ohne diese jedoch das jemals spüren lassen zu wollen. Diese Art von Erhabenheit hat sicher auch etwas Hochmütiges und kann nur dann geläutert werden, wenn man den Anderen in aller Bescheidenheit dazu verhilft, ebenfalls auf Details zu achten und das eigene Erscheinungsbild zu verbessern.” Für den Professor, der gerne Touren mit dem Oldtimer unternimmt, sollte die Zelebration von Stil immer ein Gemeinschaftserlebnis sein, welches den Anderen ihren Freiraum lässt.

 

Ein Gemeinschaftserlebnis - aha! Gibt es also womöglich doch eine Dandy-Szene in Deutschland? Wie finden diese Menschen zusammen, was verbindet sie? Und auf welche Art und Weise leben sie gemeinsam ihr Dandytum aus?

 

Pascal Dominik Mesecke (36) aus Hannover, dessen Herz zugleich an Berlin hängt, sieht das folgendermaßen: “Oft treffen sie sich in Spezialmodegeschäften, auf dem Flohmarkt, zum Konzert oder in den Sozialen Medien. [...]. In Berlin gibt es einen Kreis von ganz großartigen Menschen, die sich einen schönen Kopf um ihr individuelles Auftreten im historischen Stil machen. Davon sind einige meine Freunde, was mich ganz glücklich macht. Sei es beim Besuch eines Stummfilms, im Museum oder bei Ausfahrten in Tweed; von den besonderen Ansichten zehre ich dann in der Diaspora.“ Man kenne sich sogar über Ländergrenzen hinweg, schicke Weihnachtskarten oder kommentiere Fotobeiträge. Dass der Kaufmann für Papier- und Künstlerbedarf jedoch auch stilvoll mit sich alleine sein kann, stellt er unter anderem im eigenen Garten unter Beweis: „Gerne gärtnere ich in Tweed, was meine Nachbarn zunächst entsetzte. Die Robustheit dieser Kleidung, die ich einfach reparieren kann, ist enorm.“

 

Die Berlinerin Gabriele Drechsler (60) ist Stylistin für Herrenaccessoires und lebt eine besondere Vorliebe für außergewöhnliche Herrengarderobe. Sie trifft sich gerne und häufig mit Freunden oder den wenigen Gleichgesinnten, verbringt aber auch viel Zeit alleine, „vielleicht auch aus Ermangelung an mehreren Personen, die meine Lebensart direkt zu teilen wünschen.“ Bereits in ihren frühen 20ern von Marlene Dietrich inspiriert, kleidet sie sich „ausschließlich seit circa 5 Jahren in dem Stil, der vielleicht als ‚Dandy‘-Stil bezeichnet werden kann. [...]. "Mir geht es auch nicht darum, möglichst genau einen Kleidungsstil vorangegangener Epochen zu kopieren. Was ich trage, muss in sich stimmig, elegant, zu meiner Person passend und in meinem Alltag immer anwendbar sein.“ Frau Drechsler ist der Meinung, dass sich die Menschen aktuell und dem Zeitgeschmack folgend, nicht gut kleiden. „Um eine Marke zu setzen: seit Mitte der 1960er Jahre. Eleganz ist ein ganz wichtiger Aspekt. Kreativität und Geschmack ein weiterer...“

 

Im Gegensatz zu Frau Drechsler hat sich Gernot Klawunn (41) stilistisch auf zwei Dekaden festgelegt: Der Hamburger Gastronom und Gastgeber (Bar, Kaffee und Zigarren) verehrt insbesondere die Mode der 1920er und 1930er Jahre. „Es einfach zu leben, sich nicht einfach verkleiden, so wahrheitsgetreu wie nur möglich! Die kleinen Details wurden immer wichtiger, wie zum Beispiel der Bart (den ich gerne wie in den 1920ern trage, genannt Menjou)! Das Einstecktuch, die Frisur mit dem Seitencut und der Pomade, die Kleidung! Alles habe ich mir über die Jahre erforscht und dazu gekauft!“ Wenn es seine Zeit zulässt, verbringt auch der Sammler alter Fotokameras und Schellackplatten seine Freizeit unter Gleichgesinnten. „Ansonsten habe ich das große Privileg, es auch beruflich ausleben zu dürfen! So wurde es auch zum Aushängeschild oder Merkmal für mich und meine Gäste, die sich immer gefreut haben, mich so zu sehen!“

 

„Wenn man sich für Fußball interessiert, findet man Gleichgesinnte in der nächsten Kneipe. Einen Mann, der sich auch für steife Krägen und Sockenhalter interessiert, findet man durch Instagram Hashtags am anderen Ende der Welt“, meint der diplomierte Designer Leif Simoerson („middle-aged“) aus dem Ruhrgebiet, dem die Vergangenheit das Heute ist. Für den „Möchtegern-Influencer und Instagram Fashionist“ - wie er sich selbst bezeichnet - sind Gleichgesinnte nicht unbedingt Stil - sondern vielmehr Seelenverwandte. Herr Simoerson (Pseudonym: Vintagearian) selbst nimmt eine so genannte Dandy-Szene in Deutschland nicht wahr, sondern vielmehr Einzelpersonen, die sich zu anderen Steckenpferden zusammenfinden, wie Mode, Lifestyle und Kultur.

 

Insgesamt berichteten unsere Dandys und Dandyzettes von durchweg positiver Resonanz der Öffentlichkeit auf ihr außergewöhnliches Erscheinungsbild. So weiß allein der Vintagearian von einer despektierlichen Rückmeldung aus den sozialen Netzwerken zu berichten: „Wann kommst du denn mal zurück aus der Vergangenheit?“- „Gar nicht mehr! Mir gefällt es hier sehr gut….“ Well done, Herr Simoerson!

 

So sehr auch die Anschauungen an ein oder anderer Stelle auseinander gehen mögen, in Einem sind sich alle einig: Eine ausgesuchte Garderobe alleine macht noch keinen Dandy; gute Manieren, ein gewisses Bildungsniveau und das Beherrschen gepflegter Konversation gehören selbstredend dazu! Das würden sicherlich auch die vielen, weiteren illustren Persönlichkeiten unterschreiben, die wir hier nicht porträtieren konnten.

 

Wir halten also fest: Das Dandy-Fieber ist völlig ungefährlich! Gerne dürfen Sie sich davon anstecken lassen! Auch die Redaktion WinterSturm verfolgt das hehre Ziel, Gleichgesinnte, die dem guten Stil frönen möchten, im Rahmen gemeinsamer Unternehmungen im westdeutschen Raum zusammenfinden zu lassen.

 

Informationen zu englischen Originalausgabe finden Sie hier: https://thechap.co.uk/2020/05/01/chap-summer-20-2/

Bildnachweise:

1. Boris Juric / Photo: Snjezana Jezildic
2. Prof. Rudolf Hein / Photo: Jean-Paul Kowitz
3. Gernot Klawunn
4. Boris Juric / Photo: Fotostudio Löffler
5. Don Esteban
6. Pascal Dominik Mesecke / Photo: Detlef Berghorn
7. Sarah Settgast / Photo: Stephan Zwickirsch (Karoshiphoto)
8. Gabriele Drechsler
9. Leif Simoerson


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