Tea Time bei Gustav Temple - erschienen am 01.03.2018 im "Le Journal" No. 5

*** Diesen Beitrag haben wir aus persönlichem Interesse verfasst. Damit machen wir unbezahlte Reklame. ***


Foto: Redaktion WinterSturm
Foto: Redaktion WinterSturm

Die Zukunft des guten Stils

 

Sehr verehrte Leserinnen und Leser,

unlängst brachen wir zu einer Forschungsreise ins 21. Jahrhundert auf. Unsere Mission: das Überleben des guten Stils zu erforschen. Wir buchten zwei Plätze erster Klasse in einem der Züge der für Zeitreisen beliebten Bluebell Timeline Eisenbahngesellschaft. Wir machten es uns in den weichen Sitzen behaglich und harrten der Dinge, die uns erwarten mochten. Lehnen auch Sie sich nun entspannt zurück und begleiten Sie uns ins Jahr 2018...

 

Sheffield Park, East Sussex, Großbritannien, 12 Uhr mittags

 

Unsere Reise durch die Zeit verlief ausgesprochen komfortabel. Ungläubig stellten wir bei unserer Ankunft fest, dass sich die Bahnstation Sheffield Park seit unserer letzten Sommerfrische in England anno 1925 kaum verändert hatte!

 

Die kuriose zeitgenössische couture der am Bahnsteig wartenden Reisenden gab allerdings unvermittelt Aufschluss darüber, dass wir uns in der Zukunft befinden mussten: Hosen, die aus der Form geraten oder gar am Bein zu kleben schienen, sackartige Jacken, rückwärts getragene, bunte Mützen sowie einige weitere stilistische Sonderbarkeiten. Sah so also die Mode der Zukunft aus? Uns stockte der Atem... Der erste Schreck wich der Feststellung, dass auch wir aufgrund unserer Garderobe von den Wartenden nicht minder irritiert gemustert wurden.

 

Wir versuchten, Contenance zu bewahren und begaben uns stehenden Fußes zum nächst gelegenen newspaper kiosk, um uns anhand der dort ausliegenden Modejournale einen weiteren Überblick zu verschaffen. Aus der Fülle der bunten Auslagen sprang uns ein Magazin aufgrund seiner überraschenden Kleinformatigkeit ins Auge: der CHAP. Dessen Verleger und Herausgeber Gustav Temple konnte sich womöglich als Retter des guten Stils erweisen. Während unseres Telefonats mit Mr. Temple über eine Art "Feldtelefon", das uns die reizende Verkäuferin freundlicherweise zur Verfügung stellte, war es uns ein Leichtes, ihn für eine kurzfristige Zusammenkunft mit zwei zeitreisenden Korrespondenten einzunehmen. Wir winkten die nächste Motordroschke herbei und ließen uns erwartungsfreudig durch die liebliche Hügellandschaft der South Downs chauffieren...

 

Lewes, East Sussex, Großbritannien, Tea Time: Büro von Gustav Temple

 

Die Tür des Verlages öffnete sich, ein sorgsam gekleideter Gentleman begrüßte uns: Gustav Temple, jener chap, der sich bereits seit nun mehr beachtlichen 18 Jahren mit seinem Magazin sowie der Organisation verschiedenartigster, gesellschaftlicher Zusammenkünfte den Erhalt des guten Stils auf die Fahnen geschrieben hatte. Mr. Temples Erscheinung wollte so gar nichts gemein haben mit jener der Passanten , die wir bei unserer Ankunft in Sheffield Park angetroffen hatten. Er verströmte eine natürliche Eleganz mit einer augenscheinlich großen Liebe fürs Detail.

 

"Ganz reizend haben Sie es hier, Gustav." Bei einer dampfenden Tasse Tee und der Geborgenheit eines in die Jahre gekommenen Chesterfield-Sofas fühlten wir uns sofort wie zuhause. Wir parlierten uns ein wenig warm und erfuhren zunächst staunend von der Existenz einer zeitgenössischen, von der "Vergangenheit" inspirierten, Stilbewegung, die man im 21. Jahrhundert als "Vintagebewegung" bezeichnen wird: Es gebe Menschen, die ihren Stil auch im Alltag leidenschaftlich lebten sowie solche, die durch ihre Teilnahme an sogenannten "Retroevents" gelegentliche, vergnügliche Ausflüge in eine andere Dekade unternehmen. Jene Menschen, die ihren Stil wirklich lebten, erklärte uns Mr. Temple, richteten sich nicht nach einem Motto: "They look natural. They wear the clothes – the clothes are not wearing them." Sogar eine eigene Modeindustrie nach detailgetreuem Vorbild authentischer Schnittmuster habe sich in den "vergangenen" 10 Jahren daraus entwickelt, fuhr er fort.

"Retroevents"... "Vintagebewegung"... wir sahen einen Hoffnungsschimmer am Horizont. Jetzt interessierte uns natürlich ungemein, wie Mr. Temple höchstselbst seinen Stil zelebrierte - und natürlich auch, wo er seine eigene Garderobe erstand:

 

"Ich bevorzuge Kleidung made in Britain. Die britische Industrie unterstützen zu können ist nett, aber nicht mein einziges Kriterium. Bei Uhren und Manschettenknöpfen ist das Erstehen von Originalen sehr gut möglich, bei Stoffen eher schwierig. Wenn alte Kleidungsstücke von Motten zerfressen sind, sind diese für immer verloren. Ich lasse mir gelegentlich vom Schneider eine Reproduktion eines Originals anfertigen. Die Verbindung mit der Vergangenheit beim Tragen authentischer Kleidung fühlt sich auf jeden Fall gut an – ich bin jedoch kein Purist wie beispielsweise einige meiner Freunde, die nur Originale aus einer bestimmten Dekade tragen. So besessen bin ich nicht, aber es ist toll, wenn Menschen es sind. Die Besessenen sehen eigentlich am besten aus."

 

Dann gab Mr. Temple schmunzelnd eine kleine, lebhafte Anekdote über einen Gefährten zum Besten: Besagter Gentleman sei einst nicht etwa nach Griechenland gereist, um dort bei einem Glas Wein am Strand die Sommerfrische zu genießen, nein: um Kisten gefüllt mit Socken aus längst vergangenen Zeiten aufzustöbern!

Auf Marie de Winters Plüschkragen deutend erklärte er, im 21. Jahrhundert seien viele Menschen darauf bedacht, "nachhaltig" zu leben. Diese Wiederverwertung alter Kleidungsstücke stoße mit dem Tragen von Vintage-Echtpelz allerdings häufig an ihre gesellschaftlich akzeptierten Grenzen. Die Trägerin oder der Träger eines solchen Stückes habe möglicherweise mit verbalen Schmähungen zu rechnen. Er sei da aber altmodisch; wenn Vintage-Pelz oder -Leder gut aussähe, dann trage er es: "It´s too late to save the fox."

 

Nach einer wohlverdienten Tabakpause für unsere rauchenden Köpfe gab ein Kompliment Gustav Temples zu Marie de Winters Dreiteiler und Cloche den Auftakt zu unserer nächsten Frage. Beim Chap-Magazin handele es sich ja nun um ein reines Herrenmagazin. Während in unserer Dekade so manch mutige Dame einem maskulinen Stil fröne und als garçonne für Furore sorge - gäbe es im 21. Jahrhundert denn auch ein weibliches Pendant zum chap: die chapette? Und könne man sich darunter eine emanzipierte Lady im kecken Herrendress vorstellen? Wie überhaupt lebte denn die zeitgenössische Dame ihren persönlichen Vintagestil?

 

"Ja, es gibt den Begriff der chapette, aber nicht ich definiere ihn, das machen die Frauen selbst. Als ich vor 18 Jahren mit der Herausgabe des Chap-Magazins begann, trug kaum ein Mann diesen Stil . Im Verborgenen existierte eine Vintageszene in Großbritannien zwar schon seit den 1980er Jahren. Sie war allerdings durch den klassischen und etwas uniformen Dreiteiler geprägt. Die Frauenszene war immer schon vielfältiger, die Damen kreieren ihren individuellen Stil. Das lässt sich sehr gut bei den Besucherinnen der Chap Olympiade sehen, die wir in jedem Sommer in den Londoner Bedford Square Gardens veranstalten. Die Hälfte der Besucher dieser Veranstaltung, bei der sich die "Sportler" in Disziplinen wie dem Pfeife-Wettrauchen und dem Regenschirm-Fechten messen, sind Frauen. Dort ist gut zu sehen, dass es einen typischen Chapette-Stil nicht gibt. Heutzutage tragen gelegentlich sogar Frauen, deren Arme und Schultern mit Tätowierungen geschmückt sind, elegante Vintagekleider. Ich persönlich mag das. […]. Insgesamt muss ich sagen, dass die Herren heutzutage sehr viel weniger auf ihre Kleidung achten – nicht selten wird diese immer noch von der Ehefrau gekauft, sogar bei Männern, die jünger sind als ich (lacht)."

 

Auch wir konnten uns eines verdutzten Schmunzelns nicht erwehren, ist doch der Anblick des Mannes in Dreiteiler, Krawatte und Hut in unserer Zeit etwas völlig Alltägliches. Im 21. Jahrhundert schien es dem sogenannten starken Geschlecht offenbar einiges an Mut und Passion abzuverlangen, sich stilvoll zu kleiden. Wie würde er denn dem zeitgenössischen Herrn die Rückkehr zum guten Stil schmackhaft machen und die Botschaft seiner Arbeit formulieren?

 

"Wir sind keine [...] exklusive Bewegung, nein, es macht Spaß, Tweed zu tragen, es ist radikal und es sieht gut aus. Als wir damals damit anfingen, war es fast eine Rebellion. Für eine lange Zeit hatte sich niemand mehr so gekleidet. Ich erinnere mich, noch anno 2000 erregte ich mit Freunden sogar in London in Tweed mit Pfeife und Melone Aufsehen – doch gleichzeitig nahmen die Menschen uns auch als etwas Vertrautes wahr. […]. Großbritannien ist schließlich ein stilvolles Land, das sollte nicht in Vergessenheit geraten. Wir haben allerdings keine volkstümliche Garderobe, die für unser Land steht – wie zum Beispiel die Lederhose in Deutschland. Unser Nationaldress besteht aus Nadelstreifenanzug, Melone und Regenschirm. Damit identifiziert man uns in der ganzen Welt, das ist immer Bestandteil unserer Kultur gewesen, wir haben es nicht erfunden. Wir nehmen nur die Ikonographie des alten britischen Archetypen und machen uns ein wenig unseren Spaß damit.", verkündete er lächelnd und fügte abschließend hinzu: "It´s good to have a guiding principle we can refer back to and that´s it."

 

Das klang wahrlich nach einem wunderbaren Schlusswort unserer angeregten Konversation. Die Dämmerung hatte sich inzwischen in das Büro unseres charmanten Gesprächspartners geschlichen und gemahnte uns, unseren Aufbruch nicht länger hinauszuzögern. Selbstvergessen war uns die Zeit abhanden gekommen. Nachdem wir mit unserer mitgebrachten Faltkamera zur Erinnerung an unsere Begegnung noch ein Lichtbild geschossen hatten, stiegen wir in die von unserem Gastgeber mit seinem „Feldtelefon“ angeforderte Motordroschke zum Zeitreisebahnhof. Gustav winkte uns zum Abschied herzlich zu und wir entschwanden nach einem letzten Blick auf die Silhouette des Schlosses von Lewes, von ermutigenden Eindrücken aus der Zukunft erfüllt, in der Dunkelheit...

 

(Das Interview mit Gustav Temple wurde auf Englisch geführt und von den Autoren übersetzt.)

  

Fotos: Redaktion WinterSturm


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