"GRAND HOTEL EUROPA" - Eine Buchbesprechung / A Book Review by Ferdinand Sturm

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Atemlos. Erschrocken. Und trotzdem auf unverschämte Weise glücklich, in diesen Kontinent hineingeboren zu sein, klappe ich Ilja Leonard Pfeijffers Roman zu. Auf 550 Seiten bin ich ihm in fliegendem Galopp in alle Abgründe gefolgt, die er aufreißt, um am Schluss umso verliebter in Europa wieder aufzutauchen.

 

Nein, Europa krankt nicht an der Klimakrise, nicht an unkontrollierter Migration (ja, die Themen werden marginal gestreift), es krankt vielleicht nicht einmal an viraler oder kriegerischer Bedrohung - die Pfeijffer 2018 bei Erscheinen des Buches in den Niederlanden natürlich noch nicht vorausgesehen hat. Nein, nach Pfeijffers Erkenntnis krankt Europa an seiner Geschichte, an seinen Traditionen, an seinen verkrusteten Strukturen, vor allem aber krankt es am touristischen Ausverkauf seiner Kultur. Ilja Leonard Pfeijffer legt frei, was er für den Kern Europas hält, der angesichts aktueller Krisenpanik kaum wahrgenommen wird - und an dem sein gleichnamiger Ich-Erzähler abwechselnd zweifelt und verzweifelt.

 

Der niederländische Autor tut das im Stile eines Journalisten, eines Romanciers, eines Essayisten, eines Satirikers. Er hält dutzende Erzählstränge zusammen, ohne zu ermüden oder den Überblick zu verlieren. Er erzählt die Geschichte der Übernahme des nostalgischen Grand Hotel Europa durch einen chinesischen Investor, der fordernden Liebe zur unterforderten Kunsthistorikerin Clio, des gescheiterten Versuchs eines Experimentalfilms über den Tourismus, der Suche nach einem verschollenen Bild des Barock-Malers Caravaggio, und und und. Das, was als überheblicher Mix aus Stilen und Genres grandios hätte scheitern können, ist ein sprachgewaltiges Kunstwerk geworden. Eine Pflichtlektüre für alle Europäer*innen - selbst oder gerade dann, wenn sie sich nicht für selbige halten.

 

Warum ich das Buch auf einem Blog empfehle, der sich den 1920er Jahren, den gegenwärtigen Entwicklungen in der Vintage-Szene und dem guten Stil widmet? Nun, auch der Ich-Erzähler ist auf seine Weise „aus der Zeit gefallen“. Nicht nur, weil er als Einziger weit und breit nie ohne Anzug, Seidenkrawatte und Einstecktuch das Haus verlässt, ob im touristenverstopften Venedig, in den No-go-Areas der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje oder im 50 Grad heißen Abu Dahbi. Obschon bereits 2018 in den Niederlanden erschienen, hat Pfeijffer womöglich den Roman über die Zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts geschrieben, in dem wir auch ohne erschreckende CO2-Bilanzen und durch Raketenangriffe brennende Städte wieder einmal auf dem Vulkan tanzen. Ja, ich empfehle dieses Buch, weil Pfeijffer einen derart hinreißenden Abgesang auf das alte Europa geschrieben hat, dass man jederzeit bereit ist, im besten Sonntagsanzug mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Nur für den Fall, dass dieses Europa nicht mehr zu retten ist ...


Breathless. Terrified. And yet unashamedly happy to have been born into this continent, I close Ilja Leonard Pfeijffer's novel. Over 550 pages, I followed him at a flying gallop into all the abysses he opens up, only to emerge at the end all the more enamoured of Europe.

No, Europe is not ailing from the climate crisis, not from uncontrolled migration (yes, the topics are touched on marginally), it may not even be ailing from viral or warlike threats - which Pfeijffer, of course, did not foresee in 2018 when the book was published in the Netherlands. No, according to Pfeijffer's insight, Europe is ailing from its history, from its traditions, from its encrusted structures, but above all it is ailing from the tourist sell-out of its culture. Ilja Leonard Pfeijffer exposes what he considers to be the core of Europe, which is hardly perceived in view of the current crisis panic - and which his eponymous first-person narrator alternately doubts and despairs about.

The Dutch author does this in the style of a journalist, a novelist, an essayist, a satirist. He holds dozens of narrative strands together without tiring or losing the overview. He tells the story of the takeover of the nostalgic Grand Hotel Europa by a Chinese investor, the demanding love affair with the underchallenged art historian Clio, the failed attempt at an experimental film about tourism, the search for a lost painting by the Baroque painter Caravaggio, and and and. What could have failed grandiosely as an overbearing mix of styles and genres has become a powerful work of art. A must-read for all Europeans - even or especially if they don't consider themselves to be Europeans.

Why do I recommend this book on a blog dedicated to the 1920s, current developments in the vintage scene and good style? Well, the first-person narrator is also "out of time" in his own way. Not only because he is the only one far and wide who never leaves the house without a suit, silk tie and pocket square, whether in tourist-clogged Venice, in the no-go areas of the northern Macedonian capital Skopje or in 50-degree Abu Dahbi. Although already published in the Netherlands in 2018, Pfeijffer has possibly written the novel about the twenties of our century, in which we are once again dancing on the volcano even without frightening CO2 balances and cities burning due to missile attacks. Yes, I recommend this book because Pfeijffer has written such a ravishing swansong to the old Europe that one is ready at any moment to go down with flying colours in one's best Sunday suit. Just in case this Europe is beyond saving ...


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