"Time Travellers Welcome!" (erschienen im britischen Magazin "CHAP" / Ausgabe 107, Sommer 2021)

*** Diesen Beitrag haben wir aus persönlichem Interesse verfasst. Damit machen wir unbezahlte Reklame. ***


Für die Ausgabe 107, die sich im Besonderen den 1920er Jahren widmet, bat uns Gustav Temple, Herausgeber des britischen Herrenmagazins "CHAP", einen Artikel über das Nachtleben der "Roaring Twenties at the Bohème Sauvage" zu verfassen. Dieser Bitte kam die Redaktion WinterSturm sehr gerne nach - und freut sich, von Mr. Temple inzwischen als "our German correspondants" angekündigt zu werden.

Hier nun können Sie unseren "Bericht" erstmals auf Deutsch genießen. Viel Freude bei der Lektüre!


Inspiriert von den Roaring Twenties ist die „Bohème Sauvage“ seit 15 Jahren das mit Abstand bedeutendste Event für all jene, die in Berlin, Köln, Hamburg, Zürich oder Wien auf stilvolle Art den wilden Zeitgeist der 1920er Jahre zelebrieren möchten. Ob beim Genuss des extravaganten Bühnenprogramms oder bei stilvoller Schallplatten-Unterhaltung, beim anregenden Plausch an der Absinthbar oder in obskurer Gesellschaft am Pokertisch, bei einer flotten Sohle Tango, Charleston oder Swing auf dem Parkett: Die mondäne Salongesellschaft versteht es zu feiern, als ob es kein Morgen gäbe!

 

Exklusiv für den CHAP werfen wir einen Blick hinter die Kulissen der überaus erfolgreichen „Bohème Sauvage“ und treffen die Gastgeberin und „Grande Dame“ des Berliner Nachtlebens: Else Edelstahl! „Grande Dame? Na, davon bin ich hoffentlich noch 40 Jahre entfernt!“, lacht sie. Naja, immerhin: Seit 2006 zählen wir über 150 Bohème-Sauvage-Veranstaltungen mit mancherorts 1000 Gästen und eine große Anzahl von Kabarett-Abenden und Burlesque-Festivals, die sie auf die Beine gestellt hat. Wie fing das eigentlich alles an…, damals…?

 

„Genau genommen begann es schon im Jahre 2004“, überlegt Else Edelstahl. „Ich war zum Studieren nach Berlin gekommen, stürzte mich natürlich auch ins Nachtleben, war aber schnell gelangweilt von diesen übercoolen Szeneparties mit ihrem „Gerade-aus-dem-Bett-gefallen“ Dresscode. Also habe ich angefangen, kleine ‚Salons‘ in meiner Wohnung zu veranstalten.“ Sie bezog ihre Wände mit Stofftapeten, stellte große Spiegel auf und verbat sich Besuch im typischen Berliner Schluffi-Look. Im „Salon Edelstahl“ nahmen Damen in Flapperkleidern und Herren im Smoking an Vorträgen, Lesungen und spiritistischen Sitzungen teil. „Ab Mitternacht öffnete dann die Absinthbar, aus dem Salon wurde eine wilde Party, und am Ende lagen alle knutschend auf dem Fußboden“, erinnert sich die damalige Salonière schmunzelnd und fügt hinzu: „Else ist eben eine Lebedame. Sie ist verrucht und hat viele Affären. Ausschweifung und Exzess, das interessiert mich seit ich denken kann.“

 

Nun, wahrlich, wo wäre sie mit dieser Neigung besser aufgehoben als in den Roaring Twenties! Doch wie entwickelte sich aus der privaten Sehnsucht nach wilden Feiern in mondäner Gesellschaft die Firma „Edelstahl Events & Productions“? „Ja, das frage ich mich manchmal auch!“, lacht sie. „Es war nie mein Ziel, eine solche Firma zu gründen. Aber durch den Erfolg meiner Idee blieb mir quasi nichts anderes übrig.“ Diese hat sie dann diszipliniert und geschäftstüchtig umgesetzt - wie ihr Pseudonym schon vermuten lässt.

 

Die Locations der Veranstaltungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind dabei nicht weniger stilvoll als die Gäste. Um nur einige zu nennen: der historische „Wartesaal“ des Kölner Hauptbahnhofs direkt neben Deutschlands berühmtester Kathedrale, dem Kölner Dom, das älteste Ballhaus Berlins oder das berühmte „Wintergarten-Varieté“, in dem 1929 schon Josephine Baker für Furore sorgte. In diesen Räumen, deren Betreten bereits einer Zeitreise gleicht, wird „nicht irgendeine Party“ gefeiert, wie Else Edelstahl betont. „Die Bohème Sauvage ist ein rauschendes Fest zu Ehren der Helden vergangener Nächte, an welche die Helden der heutigen erinnern, ein Fest für all diejenigen, die jede Nacht so zelebrieren, als wäre es die letzte, für die kein Drink zu viel ist und kein Kleid zu schick. Denn weniger ist niemals mehr und zuviel ist lange nicht genug!“

 

Wieder lacht Fräulein Edelstahl und ihre Augen leuchten. Ja, uns gegenüber sitzt zwar eine äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau, aber vor allem eine charmante Gesprächspartnerin, die mit ihrer positiven Ausstrahlung begeistert. Es ist zu spüren, dass die Basis all ihrer Pläne und Aktivitäten ihre ehrliche Begeisterung für die Epoche der Zwanziger Jahre ist. Und immer wieder aufs Neue für ihre eigenen Ideen! Denn sie lässt es sich nicht nehmen, bei all ihren Veranstaltungen persönlich anwesend und für ihre Gäste ansprechbar zu sein.

 

„Die Bohème Sauvage ist eine Hommage an das Nachtleben der Zwanziger Jahre. Es geht uns um Authentizität, aber nicht im Sinne von historischer Korrektheit, sondern von Originalität“, erläutert sie. Die Gäste sollten sich nicht als Touristen verstehen, sich nicht verkleiden, sondern ihre Garderobe dem Anlass entsprechend auswählen. Wir sind schließlich auf einer mondänen Abendgesellschaft! Die darf besucht werden von eleganten Diven ebenso wie von verruchten Revuetänzerinnen, von dezenten Gentlemen ebenso wie von zwielichtigen Gigolos. Der Phantasie wird Raum gelassen, das ein oder andere Auge zugedrückt, aber gelegentlich auch der Einlass verwehrt, wenn äußere Erscheinung oder Auftreten des Gastes allzu unpassend sind.

 

„Man muss diese Zeit leben und lieben, von innen heraus!“, wünscht sich die Gastgeberin leidenschaftlich. Deshalb lässt sie als Auftakt eines jeden Abends kurze Tanzkurse geben, damit auch Tanzmuffeln unter den Gästen zumindest einfache Schritte zur Musik der Zeit gelingen. Diese wird gespielt von Bands, die sich dem wilden Hot Jazz der Zwanziger und dem Swing der frühen Dreißiger Jahre verschrieben haben, mal puristisch, mal frei interpretiert, aber immer auf hohem Niveau. Ein Salonsänger bringt Schlager und Anekdoten zu Gehör, die Jetons am Roulette-Tisch werden mit Reichsmark erkauft. Zu späterer Stunde sorgen phantasievolle Showeinlagen anrüchiger Burlesque-Tänzerinnen für Ahs und Ohs im Publikum...

 

Beim Verfassen dieser Zeilen werden die Autoren ein wenig melancholisch, erinnern sie sich doch selbst wehmütig an diese rauschenden Ballnächte bis in die frühen Morgenstunden… Denn natürlich belästigt „the inconvenience“ auch good old Germany. An nächtliches Feiern und enges Tanzen mit unbekannten Schönen ist in diesen Zeiten nicht zu denken. Was also tun!? Raus an die frische Luft mit der mondänen Gesellschaft und rauf auf die edle Motoryacht „Fitzgerald“! Im vergangenen Sommer schipperte sie einen ganzen heißen Sonntagnachmittag lang eine Gruppe stilsicherer Sommerfrischler über den Fluss Spree heraus aus dem Herzen Berlins hin zu ihrem größten Badesee und zurück. Wer hat diese Idee erdacht und umgesetzt? Sie werden es erraten: Else Edelstahl!

 

Und auch sonst hat sie die Hände keineswegs in den Schoß gelegt. Denn wenn man die Zwanziger Jahre schon nicht wild feiern kann, dann kann man doch zumindest auf allen Kanälen davon berichten und dem ihre Faszination geneigten Publikum näherbringen. Diese ihre Mission spiegelt sich in ihrem jüngsten Projekt wieder, dem Podcast „Goldstaub“ (Gold-Dust). Unter dem Motto „GLANZ, GOLD, STAUB UND DRECK. DEKADENZ, ARMUT, ASPHALT UND LICHT“ entwickelte und gestaltete sie gemeinsam mit dem Historiker Arne Krasting den ersten Podcast, der komplett den Zwanziger Jahren gewidmet ist. Als Texter und Sprecher entführen die beiden uns in die Zeit der Weimarer Republik, präsentieren sie in all ihren Facetten, in all ihren Irren und Wirren. „Es war ja nicht so, dass damals nur das Nachtleben aufregend war, es war insgesamt eine wahnsinnig spannende Dekade: Berlin wurde die drittgrößte Stadt der Welt und war eines der größten Zentren der Moderne, Marlene Dietrich hatte ihren allerersten Filmauftritt, Fritz Lang drehte ‚Metropolis‘, Bertold Brecht schrieb die ‚Dreigroschenoper‘, die ‚Comedian Harmonists‘ feierten ihre ersten Erfolge. Die Liste ist endlos. Viele Neuerungen technischer, künstlerischer und…“ Else senkt verschmitzt den Blick, „… erotischer Natur, die für uns heute selbstverständlich sind, wurden erstmals entwickelt und ausprobiert. Von den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen ganz zu schweigen!“

 

Wer über diese vielen wegweisenden Umbrüche und Ereignisse lieber liest als ihnen zu lauschen, dem sei die Lektüre des „Le Journal“ empfohlen, dem jährlich in der Silvesternacht erscheinenden „Magazin für mondäne Unterhaltung“. Herausgeberin ist natürlich - wie könnte es anders sein - Else Edelstahl.

 

Chefredakteurin Marie de Winter hat sich derzeit einer weiteren, noch größeren Aufgabe verschrieben. Anlässlich des 15. Geburtstags dieser einzigartigen Veranstaltungsreihe im kommenden Mai wird sie deren fulminante Geschichte in ihrem Jubiläumsbuch „Rendezvous mit der Bohème Sauvage“ zelebrieren. Darin plaudern Else Edelstahl, Équipe und Gäste aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Erstaunliches aus dem Nähkästchen. Im Sommer 1921, ähem, Entschuldigung, 2021, wird es die Druckereien verlassen, um zahllose coffee tables stilvoll zu veredeln!

Doch stoßen wir auf zukünftige Zeiten an, wenn sich die Unannehmlichkeiten verflüchtigt haben und die Türen der Ballsäle von leidenschaftlichen, hungrigen, sehnsüchtigen Bohème-Zeitreisenden gestürmt werden!

Bild oben: Hendrik Schneller


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