"Zwischen Wimpernschlag und Ewigkeit" von Ferdinand Sturm (erschienen im "Vintage Flaneur" / Ausgabe 41, Herbst 2020)

*** Diesen Beitrag haben wir aus persönlichem Interesse verfasst. Damit machen wir unbezahlte Reklame. ***


Für die überaus lesenswerte James-Bond-Ausgabe des "Vintage Flaneurs" des geschätzten Herausgeberteams Miriam & Frank Dovermann hatte Ferdinand Sturm die Ehre und Freude, einen Artikel über das Phänomen ZEIT und die Faszination ihrer Messung beisteuern zu dürfen!

 

Wir wünschen zeitlose Unterhaltung!


“Zeit ist der Weg der Natur, um zu verhindern, dass alles gleichzeitig passiert”. Diesen Spruch entdeckte der Professor für Theoretische Physik John Archibald Wheeler einst an der Wand einer Herrentoilette und zitierte ihn prompt in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.

‘Wieso greift ein Professor der renommierten Universität von Princeton, an der immerhin auch Albert Einstein geforscht und gelehrt hatte, auf ein Gekritzel an einer Toilettenwand zurück?’, wunderte sich der Autor dieses Essays. Aber als er sich selbst auf die Suche nach dem Wesen der Zeit machte, wurde ihm schnell klar, dass auch die Wissenschaft immer noch rätselt, was Zeit wirklich ist. Wenn sich die meisten heutigen Physiker und Philosophen überhaupt in einem Punkte einig sind, dann darin, dass das Vergehen von Zeit eine Illusion ist.

 

Doch hilft diese Erkenntnis dem Autor eines Artikels über die Zeit, wenn der Herausgeber freundlich aber bestimmt an den nahenden Zeitpunkt des Redaktionsschlusses erinnert? Immerhin hätte er – nach Einstein – theoretisch zwei Möglichkeiten, Zeit zum Verfassen seiner Gedanken zu gewinnen. Entweder verlegte er seinen Schreibtisch in ein Raumschiff und flöge mit flotten 300.000 Kilometern pro Sekunde Lichtgeschwindigkeit durch den Weltenraum. Oder er notierte seine literarischen Ergüsse in einem sogenannten “Schwarzen Loch”. An diesen Orten im Universum ist Materie so stark konzentriert, dass ihre Anziehungskraft unendlich groß wird. In beiden Fällen bliebe für den Autor tatsächlich die Zeit stehen! So unglaublich es klingen mag, aber er könnte mit dem fertigen Manuskript zurückkehren, ohne dass sich der Zeiger der Uhr auf dem Schreibtisch des Herausgebers auch nur eine Sekunde weiterbewegt hätte!

 

Neben vielem anderen sind es diese beiden Erkentnisse, die Albert Einstein in seinen Relativitätstheorien berechnet und beschrieben hat: Zeit verlangsamt sich, wenn wir uns mit hohen Geschwindigkeiten bewegen oder hohen Anziehungskräften ausgesetzt sind. Die Zeit verlangsamt sich also auch relativ zum Herausgeber, der währenddessen im Redaktionsbüro sitzt, mit den Fingern auf die Schreibtischplatte trommelt und auf den Artikel des Autors wartet!

Die Sache hat allerdings einen kleinen Haken. Zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit müsste dem Autor eine unendlich große Menge an Energie zur Verfügung stehen. Und vor dem unheimlichen Sog der Anziehungskraft in einem “Schwarzen Loch” bewahrte ihn nicht einmal sein schicker Vintage-Raumanzug.

 

Zum Glück sind die praktischen Auswirkungen von Einsteins Relativitätstheorien nicht nur im Universum, sondern auch auf der Erde wahrnehmbar. Dem Autor spielt in die Karten, dass er in Düsseldorf lebt und auf ihn somit eine höhere Anziehungskraft wirkt als auf den Herausgeber im 20 Meter höher gelegenen Königswinter! Auch könnte er im städtischen Flughafen einen Düsenjet chartern und seinen Aufsatz bei einem Rundflug verfassen. Mit hinlänglich genauen (Atom-)Uhren würde er in beiden Fällen tatsächlich einen Zeitgewinn messen! Der wäre allerdings um ein Vielfaches kürzer als ein Wimpernschlag. Und so schnell schriebe nicht einmal ein Ferdinand STURM!

 

So charmant der Gedanke auch sein mag: Mit Physik allein lässt sich der auf die Uhr tippende Herausgeber nicht überlisten. Suchen wir also nach einem einfacheren Weg, für den der Autor nur ein wenig Überzeugungskraft braucht. Denn nicht nur die Physik, auch die Sozialpsychologie hat herausgefunden, dass Zeit relativ ist - und sich nicht nur streng nach der Uhr, sondern auch nach erlebten Ereignissen messen lässt!

 

Der US-amerikanische Psychologe Robert Levine machte erstmals Bekanntschaft mit der “Ereignis-Zeit”, als er Mitte der 1970er Jahre eine Professur in Brasilien antrat. Von zuhause in Kalifornien war er es gewohnt, dass seine Studentinnen und Studenten pünktlich zu den Vorlesungen erschienen. Ebenso pünktlich schoben sie unruhig ihre Bücher hin- und her, wenn die Uhr das Ende der Unterrichtsszeit ankündigte. Bei seiner ersten Vorlesung in Brasilien fand er den Hörsaal zu Vorlesungsbeginn beunruhigend leer vor. Einige Studenten erschienen eine halbe Stunde später, einige eine ganze Stunde, ein paar kurz vor Schluss. Alle freundlich lächelnd. Als die Uhr das offizielle Vorlesungsende anzeigte, zogen manche die Schuhe aus und begannen, interessiert Fragen zu stellen. Einige schlenderten entspannt hinaus, um nach ein paar Minuten mit einer Tasse Kaffee bewaffnet wieder am Gespräch teilzunehmen. Anderthalb Stunden nach Vorlesungsende leerte sich langsam der Saal; zurück blieb ein verblüffter und erschöpfter Professor Levine. Der hatte an diesem Tag sein Lebensthema gefunden: Das Verhältnis verschiedener Kulturen zum Thema ZEIT (die gesammelten Forschungen dazu sind in seinem sehr lesenswerten Buch “Eine Landkarte der Zeit” zu finden).

 

Kulturen, die der Ereignis-Zeit zuneigen, lösen eine Aktivität schlichtweg von der Uhr-Zeit. Aktivitäten ereignen sich spontan. Wen kümmert es, was die Uhr anzeigt? Wen kümmert es also, wenn der Kalender auf den Redaktionsschluss hinweist? Vielleicht ist dieser Artikel dann vollbracht, vielleicht braucht er noch Zeit. Schelten Sie deswegen den Autor nicht, verehrter Herr Herausgeber! Er ist Ihnen schließlich auch nicht böse, wenn er seinen Beitrag in Ihrem schönen Magazin erst einige Wochen später lesen darf. Ihre Leserinnen und Leser freuen sich auf die Lektüre, wann auch immer sie diese in Händen halten. Ist das nicht wunderbar erlösend, Herr Herausgeber? Halten Sie es wie die Brasilianer! Denn die Ereignis-Zeit ist kein individuelles Phänomen, sondern die verinnerlichte, entspannte Haltung ganzer Kulturen zu dem hierzulande unausweichlich erscheinenden Diktat der Uhr. So hält auch ein afrikanisches Sprichwort uns Nordlichtern herzlich direkt den Spiegel vor: “Als Gott die Welt erschuf, gab er den Afrikanern die Zeit und den Europäern die Uhr.”

 

Damit sind wir nun also angekommen. Bei der UHR. Dem Instrument, das uns allen schlägt, egal welcher Philosophie wir in Bezug auf die Zeit anhängen. Zunächst allerdings floss sie für uns und warf ihre Schatten voraus. Denn die ersten Zeitmessinstrumente waren Wasser- und Sonnenuhren, deren Erfindung 5500 Jahre zurückreicht. Während die Sonnenuhr selbstredend nur am Tage und bei gutem Wetter die Zeit anzeigte, funktionierte die Wasseruhr jederzeit. Bei ihr tropfte eine bestimmte Menge Wasser durch ein kleines Loch aus einem Gefäß. Anhand einer Skala im Inneren zeigte der Wasserstand die Zeit an. Der griechische Philosoph Aristoteles entwickelte die Wasseruhr gar zum Wecker weiter: Nachdem eine auf die ideale Schlafensdauer geeichte Menge aus einer Wasseruhr in ein Gefäß getropft war, klappte ein gelenkiger Schwimmer an der Wasseroberfläche um. Die darauf liegenden Steinchen fielen scheppernd in einen leeren Becher, wecken den Gelehrten und mahnten ihn, seine Studien fortzusetzen.

 

Überholt wurde die Genauigkeit der Wasseruhr erst, als der Universalgelehrte Galileo Galilei Ende des 16. Jahrhunderts die Eigenschaften des Pendels erforschte. Der niederländische Mathematiker Christian Huygens erkannte dessen Potential und entwickelte die ersten Pendel-Uhren. Die besten Modelle wiesen eine Ungenauigkeit von weniger als 10 Sekunden pro Tag auf! Jetzt wurde es möglich, das Leben nicht nur in Stunden, sondern auch in Minuten und sogar Sekunden einzuteilen. Seitdem hat sich das Schicksal des mit Blick auf die Uhr schreibenden Autors und des mahnend aufs Ziffernblatt weisenden Herausgebers nicht mehr grundsätzlich verändert.

 

Etwa 100 Jahre später ermöglichte die Entwicklung der aufziehbaren Spiralfeder erstmals die Konstruktion tragbarer Uhren, die nach Erfindung der Weste ihren Weg in die nach ihr benannte Tasche fanden. Schließlich war es der Pilot Alberto Santos Dumant, dem das Zerren an der Uhrenkette während eines riskanten Flugmanövers im engen Cockpit zu waghalsig wurde. Im Jahre 1904 bat er den französischen Uhrmacher Louis Cartier, eine Uhr für ihn anzufertigen, die sich auch im Fluge leicht ablesen ließe. Cartier löste die Aufgabe, indem er die Uhr von der Kette ließ und um den Arm schnallte. In großem Stile industriell hergestellt wurde die Armbanduhr erstmals für die Armeen des Ersten Weltkriegs. In den 1920er Jahren entwickelte sie sich dann zum erschwinglichen Zeitmesser für jedermann. Einige Jahrzehnte verweilte sie am Arm, zunehmend mit unverwüstlichen Quarzuhrwerken ausgestattet, die dem Uhrmacher von nebenan das Leben vergällten. Schließlich wanderte die Uhrzeit mit dem Smartphone wieder in eine Tasche, diesmal meist die der Hose – und verschwand...

 

Schade eigentlich. Angekommen im “Jetzt” kann sich immerhin der Autor entspannt zurücklehnen und gemeinsam mit dem erleichterten Herausgeber dem beruhigenden Ticken einer handaufgezogenen Taschen- oder Armbanduhr lauschen. Wir erbten das gute Stück vielleicht vom Vater oder der Großmutter oder stöberten es verzückt in einem Antiquitätengeschäft auf. Womöglich ließen wir es gar aus Respekt vor einem aussterbenden Handwerk von einem Uhrmacher anfertigen. So oder so wird eine solch klassisch-schöne, mechanische Uhr der Genauigkeit einer digitalen Quarzuhr vom Ramschtresen immer unterlegen sein; nicht zu reden vom unbemerkt mit den neuesten Atomuhren abgeglichenen Smartphone. Deren Takt wird von herumflitzenden Cäsium-Atomen bestimmt, die in 20 Millionen Jahren gerade mal eine Sekunde nachgehen.

 

Geschenkt. Denn Vintage-Flaneure sind immer auch Flaneure durch die Zeit. Sie genießen es, wenn ihnen die Stunde nicht schlägt. Im Jetzt angekommen leben sie in ihrer eigenen Zeit. Und die ist manchmal so relativ, dass wir dem wunderländischen Kaninchen nur zustimmen können, wenn es auf Alice´ Frage, wie lange die Ewigkeit dauere, antwortet: “Manchmal nur einen Augenblick”.


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